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23. Mut zur Liebe (Auszug aus “Das Labyrinth aus Sternenstaub und Träumen”)

Tess und Jon wanderten über die Klippen der Halbinsel Howth, die ungefähr zwanzig Kilometer von Dublin entfernt lag. Es war noch recht früh am Freitagmorgen. Der Weg führte sie über die beeindruckende Steilküste. Jon hatte ihr nicht zu viel versprochen, als er von der typisch irischen Landschaft mit der großen Vogelvielfalt geschwärmt hatte. Möwen kreisten über das offene Meer, und sie sahen sogar Seehunde im Wasser. Nachdem der erste Anstieg geschafft war, wurde das Laufen leichter. Sie liefen Richtung Baily Leuchtturm, dann rechts ein Stückchen hinauf zum Howth Summit, dem Gipfel.
Dort hatten sie eine grandiose Aussicht. Sie setzten sich auf einen großen Stein und blickten gemeinsam auf das Meer und über die Bucht von Dublin.
Seit ihrem schnellen Frühstück, das sie dieses Mal in Jons Küche eingenommen hatten, waren sie still.
Er hatte ihr lediglich seine Tagespläne genannt: Howth am Vormittag, am frühen Nachmittag ein Termin am Trinity College, danach alles für die USA-Reise zusammenpacken und am Abend noch einen kurzen Ausflug in einen typischen Pub. Sie hatte kurz eingewendet, dass er nicht verpflichtet sei, ihr sein Land zu zeigen, und dass sie verstehen würde, wenn er nur seine Erledigungen am College machen und dann die Reise vorbereiten würde. Sie wollte ihm nicht zur Last fallen. Seine Reaktion war ein überraschtes Augenbrauenhochziehen, ein Lachen und die knappe Antwort: „Ich liebe es, dir ein wenig von meiner Heimat zu zeigen! Ich wünschte nur, wir hätten mehr Zeit.“
Und so waren sie losgezogen. Keiner von beiden erwähnte das Gespräch vom Vorabend, in dem er ihr seine Liebe gestanden und gleichzeitig die ihre zu ihm festgestellt hatte. Tess war von dieser Ehrlichkeit überwältigt gewesen. Sie hatte sich zwar nicht gewagt, ihm seine Aussage, in der es um ihre Liebe zu ihm ging, zu bestätigen, aber sie wusste genau, was er meinte. Es war auch keinesfalls peinlich gewesen oder unpassend. Es war einfach so entwaffnend ehrlich. Ihr war ja durchaus bewusst, dass er damit nicht sie als Frau – als seine Frau – meinte, sondern als einen ebenbürtigen Teil neben vielen anderen Teilen. Helen. Sie war auch einer der Teile. Wahrscheinlich ebenso seine dekadenten Eltern.
Nachdem sie weiter eine ganze Weile geschwiegen und einfach nur über die Landschaft geschaut hatten, unterbrach sie die Stille.
„Du hast eine ganz andere Vorstellung von Liebe als allgemein üblich“, sagte sie langsam und es klang so, als hätte sie diese Worte mit Bedacht gewählt.
Er schaute sie lächelnd an und sagte zunächst nichts. Seine blauen Augen strahlten. Sie blickte bewusst in sie hinein, ohne dass es ihr unangenehm wurde. Sie bemerkte jetzt zum ersten Mal seine vielen Lachfältchen, die ihn etwas älter wirken ließen als Mitte dreißig.
„Es ist die Liebe, die du als Junge in der geistigen Welt erfahren hast, nicht wahr?“, fragte sie ihn. Denn sie musste es einfach wissen.
„Ja, Tess“, antwortete er, „diese Liebe kann ich nicht vergessen. Ich sehne mich nach ihr. Ich weiß auch, dass sie nicht nur da oben ist.“ Bei den Worten da oben machte er mit seinem Kinn eine Bewegung Richtung Himmel.
„Hast du sie hier noch nie gefunden?“, wollte sie wissen und fragte sich augenblicklich, ob sie ihm zu nahekam. Er blieb weiter entspannt, und auch wenn sein Mund nicht mehr lächelte, so taten es doch seine Augen.
„Ich finde diese Liebe immer wieder. Denn sie ist in mir. So wie auch die geistige Erfahrung, die ich gemacht habe, in mir ist. Der Himmel ist in mir. Und er ist in dir. Er ist in jedem. Hier in diesem Labyrinth, so wie Amaroks Stamm die Welt nannte, haben wir so eine Art Behinderung. Den Körper. Der ist grobstofflich und nicht gerade feinfühlig. Es gibt aber nichts, was wir in der Welt nicht schon jetzt wiederfinden könnten. Ich fühle mich oft wie ein Astronaut mit dickem Spaceanzug auf Außenmission. Ich weiß, dass ich nicht nur mit einem Kabel an meinem Spaceshuttle befestigt bin, sondern dass dieses Spaceshuttle mich sicher wieder zur Erde bringen wird. Oder eben, wie dieses handgeschriebene Buch es erklärt: Ich weiß, dass ich hier im Labyrinth nicht daheim bin. Ich kann aber jeden Gang benutzen, um heim zu finden, denn ich bin ein Sternenkind. Mein Sternenstaub weist mir den Weg, wenn ich das nicht unter meinen eigenen Körperträumen vergesse.“
„Wann fühlst du diese Art von Liebe, Jon?“, fragte sie weiter. Sie wusste, dass das Liebesthema etwas mit Aponi und ihrer Mission zu tun hatte.
„Sehr oft, wenn ich meditiere. Dann vergesse ich Raum und Zeit. Manchmal in der Natur, wenn ich ganz still bin, so wie wir beide eben. Es ist auch immer wieder kurz in Gegenwart von Menschen, denen ich begegne. Welcher Mensch das gerade ist, darauf habe ich keinen Einfluss. Es ist mir schon einige Male passiert, dass ich ganz plötzlich einen scheinbar Fremden auf der Straße oder sonst wo so sehr geliebt habe, dass ich keinen Raum zwischen seinem und meinem Geist wahrnehmen konnte. Ein einziges Mal ist genau das erwidert worden…“, Jon hielt inne, und er nahm Tess Hände. Ihr Herz schlug höher, denn sie wusste, dass er sie meinte.
„Es ging mir genauso in der Pizzeria“, flüsterte sie.
„I know, my dear“, flüsterte er zurück. Sein Blick drückte eine bitterzarte Sehnsucht aus, die ihr Herz mit tiefer Liebe erfüllte.
Wieder stieg das Gefühl in beiden auf. Sie schauten sich an und eine Woge der Vollständigkeit umfing sie. Dieses Mal war es sogar noch intensiver für Tess. Denn sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie mit ihm total verschmolz, und das obwohl sie ihn mit allen körperlichen Sinnen noch wahrnahm.
Irgendwann ebbte das Glücksgefühl wieder ab und Tess fragte: „Was ist das nur?“
„Das ist es, was ein geöffnetes Herz ausmacht. Du hast es. Ich habe es. Doch wir dürfen es nicht behalten. Vor allem dürfen wir es nicht zu etwas Besonderem machen. Alle Menschen könnten so lieben. Sie werden sogar dazu aufgefordert. Wir werden genau das in die Welt bringen. Dazu sind wir zusammengeführt!“, er sagte es atemlos und dann nahm er sie in die Arme.
Tess Herz schlug wie wild. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass er der Mann fürs Leben wäre. Sie hätte ihn jetzt am liebsten geküsst. Seine wunderschön geschwungenen rosigen Lippen, die so einladend aussahen, mit den ihren berührt… Doch sie spürte, dass Jon das nicht verstehen würde mit seiner großen Liebe. Aber wieso konnten sie sich nicht einfach als Paar lieben? Und zwar mit dieser großen Liebe? Jon schien nichts von ihrer plötzlichen Zerrissenheit zu merken. Irgendwann lehnte sie an seiner Schulter und er legte seinen Arm um sie. So schauten sie weiterhin in die Ferne.
Als sie schließlich weiterwanderten, hatte Tess ihre Gedanken halbwegs beruhigt. Sie wollte einfach abwarten, was der gemeinsame Roadtrip ihnen bringen würde…

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